Herzinfarkt! Ein Wort („Oje, jetzt hätt‘ ich fast ’nen Infarkt gekriegt …!“), das oft erstaunlich leichtfertig gebraucht wird – und nicht selten sogar zum „Herzkasperl“ verniedlicht. Ich kam damit bereits vor mehr als 40 Jahren in meiner Heimatstadt München während meines Biologie-Studiums in Berührung, als meine Kommilitonen meine begeisterte Hektik während der Exkursionen und Kurse mit „Wenn du so weiter machst, Stefan, stirbst du schon mit Dreißig an einem Herzinfarkt!“ kommentierten. Was freilich nicht passierte. Aber ich war zu dieser Zeit, und auch dann während Diplom- und Doktorarbeit, in der Tat ein echter Workaholic. Motiviert durch ein Stipendium sowie erste wissenschaftliche Erfolge und Publikationen deutete alles auf eine erfolgreiche akademische Karriere hin.
Etwas anderes aber passierte. Ich war 32 Jahre alt und noch nicht lange Assistent am Lehrstuhl für Genetik der Universität Regensburg, als mein Vater – im Alter von 63 – völlig überraschend an einem doppelten Herzinfarkt starb. Unmittelbar zuvor hatte er mich noch besucht gehabt und dabei verharmlosend über seine Angina pectoris gesprochen, die er aber mit Tabletten gut im Griff habe. Auf der Heimfahrt zur Zweitwohnung in Bad Tölz erwischte ihn der erste Infarkt, und in der Klinik dort erlag er dem zweiten.
Meine Erschütterung darüber war viel größer als die über den langsamen Krebstod meiner Mutter, welchen mein Vater, mein Bruder und ich schon zehn Jahre zuvor mit ansehen mussten. Ich hadere bis heute damit, dass ich die Erkrankung meines Vaters damals derart naiv unterschätzt und ihn nicht dazu gedrängt hatte, in Regensburg eine Klinik aufzusuchen. Trauer und Schock führten aber jedenfalls zu grundsätzlichem Nachdenken, und nachdem ich kurz darauf unter meinen Studentinnen meine Frau kennenlernte, heiratete, und ein paar Jahre später mein Sohn geboren wurde, verschoben sich meine Lebens-Prioritäten immer mehr. Um es kurz zu machen: Ich beendete schließlich meine Forscher-Laufbahn und wechselte in die Wissenschafts-Administration. Meine Frau, zehn Jahre jünger als ich, bestand außerdem darauf, dass ich mich regelmäßigen Gesundheits-Checks unterzog. Dabei zeigte sich aber nie irgendetwas Auffälliges. Und mein neuer Beruf als Vizepräsidenten-Referent bei der Max-Planck-Gesellschaft war zwar auch nicht ohne Stress, aber zumindest fiel die Unsicherheit ständiger Zeitverträge endlich weg und ich konnte mich, zurück in München, mit meiner Familie solide etablieren.
Erst als ich bereits Ende 50 war, wanderten meine Blutfettwerte in einen Bereich, der meinen aufmerksamen Hausarzt dazu bewog, mich nachdrücklich zu Einnahme von Statinen zu überreden. Bis dato waren Pillen aller Art für mich stets ein No-Go gewesen, aber angesichts meiner familiären Vorbelastung durch den Herztod meines Vaters ließ ich mich schließlich darauf ein. Die Behandlung wirkte gut. An meinem 60sten Geburtstag dachte ich noch ganz stolz, dass ich die düsteren Prophezeiungen meiner damaligen Mitstudenten jetzt tatsächlich schon doppelt so lange überlebt hatte.
Dann wurde ich 63 – exakt das Alter, in dem mein Vater starb – und der Vorderwandinfarkt mit Kammerflimmern und Herzstillstand erwischte mich an einem Novembersonntag mitten im Sportstudio. Erst zehn Tage zuvor hatte ich, nach einem kleinen Schwächeanfall beim Radfahren, beim Hausarzt noch ein EKG machen lassen, das völlig unkritisch war. Trotzdem war dieser Schwächeanfall, zusammen mit einem kurzen zweiten, den ich am Vorabend am Computer bekam, wohl einer der wesentlichen Faktoren dafür, warum ich noch lebe. Denn als mich bei meinem „Kieser“-Training (das ich schon mehr als 20 Jahre lang betreibe) plötzlich auch wieder „irgendwie seltsam schwach und komisch“ fühlte, bat ich die anwesende Instruktorin, jetzt doch lieber mal den Notruf zu wählen. Schmerzen hatte ich zu keinem Zeitpunkt, auch keine Panik. Aber Sanitäter und Arzt kamen noch genau rechtzeitig, um dann das volle Reanimationsprogramm an mir durchexerzieren zu dürfen, nachdem ich plötzlich das Bewusstsein verlor und ins Nirwana versank. Alles, was in dieser „Nicht-Zeit“ passierte – Herzdruckmassage, Defi-Schock … – musste mir später meine Frau erzählen, die alles hautnah miterlebte. Ich selber begriff erst als ich bereits im Krankenhaus war, was es bedeutet hatte, dass die Notärztin plötzlich zu mir sagte „Da sind Sie ja
wieder!“ Ich war in dem Moment bestenfalls etwas verwirrt, denn ich hatte nicht das Gefühl gehabt, jemals weg gewesen zu sein. Die eine Situation war völlig nahtlos in die andere übergegangen; den Zeitraum zwischen Herzstillstand und erfolgreicher Wiederbelebung gibt es für mich nicht. Ich hatte weder „Schwärze vor Augen“ noch irgendwelche Nahtod-Erlebnisse; es war schlichtweg die gleiche absolute Nicht-Existenz, in der wir uns alle bis zu unserer Geburt ja auch befinden (ein Gedanke übrigens, der das Tot-Sein für mich jetzt noch weniger beängstigend macht als je zuvor). Das einzige etwas Seltsame war gewesen, dass ich plötzlich Sprechschwierigkeiten und Sehstörungen hatte, was ich jedoch eher irritierend als beängstigend empfand, und was sich auch bereits während der Blaulichtfahrt im Sanka zur Klinik wieder weitgehend legte.
Die ganze Tragweite des Ereignisses – und das unfassliche Glück, das ich hatte, weil ich sofortige professionelle Hilfe vor Ort bekam und so der 21.11.21 nicht zu einem hübschen Todesdatum, sondern zu meinem zweiten Geburtstag wurde – sickerte also erst nach und nach so richtig in mein Bewusstsein. In der München-Klinik Bogenhausen erhielt ich – nach einem kurzen neurologischen Erst-Check – noch am selben Abend vier Stents und kam zur Überwachung auf eine (damals wegen Corona hoffnungslos überfüllte) Intensivstation. Dort hatte ich dann fünf Tage lang Zeit für viel Reflektion, weil die CK-Werte zunächst nicht sinken wollten (Grund war übrigens, dass ich zunächst ein anderes Statin erhielt als das, was ich sonst nehme). Davon abgesehen meinten die Ärzte, einen Fall wie mich hätten sie nicht allzu oft, denn mein Herz weise praktisch keinerlei Folgeschäden auf, und sie könnten mir auch keine Empfehlungen geben, was ich ab jetzt in meinem Leben anders machen solle – schon bisher hätte ich nichts falsch gemacht und alle klassischen Risikofaktoren (Rauchen, Alkohol, Übergewicht…) konsequent vermieden. Nur „schlechte Gene“, ja, die könne man halt nicht ändern, und deren Einfluss werde leider sehr oft unterschätzt.
Trotzdem änderte ich anschließend einiges. In einer fünfwöchigen Kardio-Reha im Klinikum Höhenried am Starnberger See (eine Einrichtung, die ich übrigens – nach einem Burnout – bereits durch einen früheren Aufenthalt in der Psychosomatischen Abteilung kannte) lernte ich, dass mir durchaus noch eine Stellschraube verblieb, nämlich beim Stress. Als allererstes legte ich daher mein Amt als Stellvertretender Betriebsratsvorsitzender nieder, welches man mir ein paar Jahre zuvor an meiner Arbeitsstätte aufgedrängt hatte – mit sofortiger Wirkung. Als nächstes unterschrieb ich einen Altersteilzeitvertrag, der es mir ermöglichte, bereits ein Jahr vor Beginn der offiziellen Altersrente in den Ruhestand zu wechseln.
Und da bin ich jetzt auch schon eine Weile angekommen. Ich genieße die Vor- und Nachteile einer privaten KV und lasse mich daher sehr regelmäßig kardiologisch kontrollieren. Vom Verein „Herz ohne Stress“ erfuhr ich freilich erst jetzt, mehr als zweieinhalb Jahre später. Dass es diese Initiative und die Selbsthilfegruppen gibt, hätte ich dabei durchaus gern früher gewusst, denn gerade in der ersten Zeit nach Infarkt und Reha waren Angst und Unsicherheit meine ständigen Begleiter. Was ich während des Ereignisses selbst – zumindest nach meiner Erinnerung – nie empfunden hatte, stürzte sich jetzt mit umso größerer Hartnäckigkeit auf mich. All die Sorgen, das ständige Beobachten und In-sich-Hineinhorchen, die Vorstellung vom „Was wäre, wenn es wiederkommt“ hätte ich daher gerne zeitnah mit mehr Menschen geteilt, denen es ähnlich ergeht. So aber blieb mir zunächst nur die etwas tröstliche Aussage eines Arbeitskollegen, der aus eigener Erfahrung wusste, dass es „halt mindesten ein bis zwei Jahre“ dauere, bis man wieder zu einer gewissen Lebenssicherheit zurückfinde. Dass ich die freilich bis heute nicht zu 100% habe, liegt unter anderem daran, dass ich schon mein ganzes Leben lang mit hoher künstlerischer Phantasie und Vorstellungskraft gesegnet bin. Seit meinem Ruhestand habe ich mich daher auch weit intensiver auf dieses Standbein gestellt als es mein Beruf zuvor je erlaubt hatte; ich verbringe nun viel Zeit mit Schreiben, Dichten, Komponieren und der Produktion von Hörspielen auf nichtkommerzieller Basis; etwas, das mir ungeheuer viel Spaß und Befriedigung verschafft. Meine Psychotherapeutin sagte mir kürzlich, genau diese Fähigkeiten, die mir all das ermöglichen, seien aber auch der – wohl unausweichliche – Preis, sich eben auch immer das Schlimmstmögliche“ vorstellen zu können. Damit werde ich wohl, meint sie, leben müssen.
Aber da ich es an keinem Tag mehr als selbstverständlich nehme, überhaupt noch zu leben, ist das vermutlich ein relativ kleines Übel angesichts des Glücks, dass ich bei alldem insgesamt hatte, und das mit keinem Lottogewinn dieser Welt aufzuwiegen ist. Dass manche andere leider nicht dieses Glück hatten oder haben, ist mir freilich auch sehr bewusst und macht mich für mein eigenes Schicksal äußerst dankbar und bescheiden.
Einen Einblick in das künstlerische Schaffen von Stefan findet ihr hier auf seinem YouTube-Kanal.