Mit 53 Jahren hatte ich einen Herzinfarkt – nur wusste ich das lange Zeit nicht. Kein dramatischer Zusammenbruch, kein Notarzt, keine plötzliche Diagnose. Es war ein stiller Infarkt. So nenne ich ihn heute, weil niemand das Wort „Herzinfarkt“ in den Mund nahm – bis ein Arzt es endlich klar aussprach. Erst da begann ich zu verstehen, was mit mir geschehen war. Und erst da begann ich, mich ernst zu nehmen.
Rückblickend erkenne ich viele Warnzeichen. Seit meinem 40. Lebensjahr waren meine Cholesterinwerte erhöht. Ich ging regelmäßig zur Kontrolle. Es hieß: „Genetisch bedingt.“ Die Werte besserten sich nicht, aber auch nicht dramatisch – also blieb alles beim Alten. Ich bevorzugte pflanzliche und alternative Heilmethoden. Mit rotem Reis statt Statinen fühlte ich mich besser beraten. Nur: Es half nichts. Ernährung umgestellt, Bewegung eingebaut – keine Wirkung.
Jährlich ließ ich meine Halsschlagader schallen – stets „wie ein Kinderpopo“, ohne Ablagerungen. Eine Vertreterin meiner Hausärztin sagte mir einmal: „Auch mit blanker Halsschlagader kann das Herz krank sein. Ich hätte Statine nehmen sollen oder noch besser, die Ursachen von Arteriosklerose behandeln – ich habe es zu spät gemerkt.“ Heute weiß ich: Ich hätte auf sie hören sollen.
Ich hatte keine offensichtlichen Risikofaktoren: normales Gewicht, Nichtraucherin, kaum Alkohol, Bewegung. Und doch wurde ich mit Ende 40 immer kurzatmiger, beim Joggen, beim Radfahren. Ich hielt mich für unsportlich, zu schwer, unattraktiv – und machte mir selbst Vorwürfe. Ich fühlte mich schwach, schämte mich, wenn ich beim Radeln meinen Mann bat, mich anzuschieben.
Später kamen Schmerzen im oberen Rücken dazu, Atemnot. Die Hausärztin veranlasste einen Lungenfunktionstest – ohne Befund. Also weiter so. Sie zeigte mir, wie ich mich im Sitzen vorbeugen könne, um besser zu atmen. Absurd, wenn ich heute darüber nachdenke.
Dann, im Dezember 2020, kam die Nacht, die alles veränderte. Ich wachte mit heftiger Atemnot auf, konnte nur noch aufrecht sitzen, hatte Schmerzen im Rücken und Bauchraum. Es war beängstigend. Ich dachte kurz an den Notarzt, verwarf es aber gleich wieder. Man ruft den Notarzt nur, wenn es „wirklich schlimm“ ist – so wurde ich erzogen.
Die Beschwerden gingen nicht gleich weg. Nach den Feiertagen, die Hausärztin im Urlaub, ging ich ins Krankenhaus. Ohne Befund. Der Arzt meinte, ich hätte wohl über die Feiertage zu üppig gegessen. Ich solle das nächste Mal lieber eine Praxis aufsuchen. Ich verließ das Krankenhaus beschämt – wieder mit dem Gefühl übertrieben zu haben.
Erst ein halbes Jahr später bekam ich auf eigene Initiative hin ein Belastungs-EKG bei einer Kardiologin. Das Ergebnis war eindeutig. Ich wurde sofort ins Krankenhaus überwiesen: Eine Herzkranzarterie war fast vollständig verschlossen, eine Bypass-Operation stand im Raum. Zum Glück konnte ein Chefarzt die Engstelle mit einem Stent öffnen. Ich bin ihm bis heute dankbar.
Das war 2021. Und es war der erste Moment, in dem ich wieder beim Laufen spürte: Ich kann durchatmen. Ohne Pause. Ich war überwältigt – und gleichzeitig erschüttert, wie lange dieser Zustand unentdeckt geblieben war.
Ich frage mich bis heute: Warum hat niemand früher genauer hingeschaut? Warum habe auch ich mich selbst so wenig ernst genommen? Es war, als hätte niemand – nicht ich, nicht die Ärztinnen – die Symptome zu einem klaren Bild zusammengesetzt. Bis es fast zu spät war.
Zeitgleich entwickelte sich ein weiteres Thema: Ich bekam die Diagnose Glaukom – grüner Star. Trotz verschiedener Augentropfen besserte sich der Augeninnendruck kaum. Auch hier schien die medizinische Herangehensweise rein symptomatisch. Dabei gibt es Hinweise, dass Glaukom auch stressbedingt sein kann – ein Zeichen von innerem Druck. Ebenso wie die koronare Herzkrankheit.
Ich begann zu verstehen: Mein Körper schreit, wenn ich nicht hinhöre.
Ich habe viele Wege ausprobiert: Therapien, Coachings, Achtsamkeit, Ernährung, alternative Medizin. Heute fahre ich mehrgleisig – mit Sport, einer neuen beruflichen Ausrichtung, mehr Selbstfürsorge. Ich laufe regelmäßig, gönne mir Ruhezeiten, habe eine entschleunigende Morgenroutine etabliert. Und ich lerne, meiner inneren Stimme wieder zuzuhören.
Ich bin weiterhin in ärztlicher Behandlung, musste Eingriffe an beiden Augen über mich ergehen lassen. Doch ich merke: Die ärztliche Betreuung ist oft fragmentiert. Kaum jemand schaut ganzheitlich auf meine Geschichte. Also übernehme ich mehr und mehr Verantwortung. Ich informiere mich selbst, stelle Fragen, fordere mehr ein.
Und ich übe, mich auch mal zu empören. Nicht alles hinzunehmen. Denn trotz allem Engagement und guten Willen in der Medizin: Eine Entschuldigung für all die Versäumnisse? Fehlanzeige. Selbst die Kardiologin, die später meinte, sie könne nicht verstehen, wie das übersehen wurde, hat sich nie an die eigene Nase gefasst.
Dann kam 2025. Vier Jahre nach dem ersten Eingriff, sportlich aktiv, medikamentös gut eingestellt – und plötzlich wieder ein Rückschlag. Ich hetze zur S-Bahn, 100 Meter Sprint, Treppen – und lande mit entgleistem Blutdruck in der Notaufnahme der Charité. Kein Blick aufs Herz, trotz mehrfacher Hinweise, dass ich Herzpatientin bin. Ich warte stundenlang auf einer harten Liege – und fahre ohne Diagnose wieder zurück nach München.
Drei Tage später – dasselbe noch einmal. Doch diesmal habe ich Glück. In einer Münchner Klinik, dem Pasinger Krankenhaus, erkennt der Chefarzt mit „Genderblick“ die Zeichen. Zwei weitere Stents retten mir das Leben.
Ich bin fassungslos: Warum wird immer noch so wenig individuell geschaut? Warum interessiert niemand, warum mein Cholesterin so hoch ist? Warum sucht niemand nach den Ursachen meiner Herzprobleme – statt nur Symptome zu bekämpfen?
Bei der Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen hinken wir in Deutschland den modernen Erkenntnissen hinterher. Das sagt leider nicht nur die Statistik, sondern das musste ich am eigenen Herzen erleben.
Ich gebe nicht auf. Ich will die Zusammenhänge verstehen. Ich hoffe auf ganzheitlich denkende Ärzte und Ärztinnen, auf mehr Zuhören, mehr Hinschauen – und vor allem: auf mehr Herz im Gesundheitssystem.
